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Windlicht: Der Lebenstraum unterm Apfelbaum

Autorenbild: HeidelHeidel

Der Lebenstraum von Ilona Dahlmann ist ein ehrwürdiges Häuschen unter einem alten Apfelbaum. „Windlicht“, heißt das liebevoll eingerichtete Antiquariat aus rund 50.000 Büchern in einem beschaulichen Holzhäuschen im brandenburgischen Stölln bei Rhinow. Wenn Ilona Dahlmann ihre Gäste empfängt, steht immer eine frisch gebrühte Kaffeekanne auf dem Tisch. Sie sagt: „Wer dieses Haus betritt, soll sich heimisch fühlen. Mir geht es nicht ausschließlich darum, Bücher zu verkaufen – meine Gäste können Kontakt aufnehmen mit dem Exemplar ihrer Wahl. Sie können darin lesen und es wieder ins Regal stellen. Oder doch mit nach Hause nehmen, beides ist mir recht.“ Ilona Dahlmann ist keine Geschäftsfrau im klassischen Sinn: „Ich brauche nicht viel zum Leben.“ Ihre Bücher gibt sie für kleines Geld her. Die Preise liegen irgendwo zwischen zwei und zehn Euro. Sie meint: „Jedes Buch hat einen Besitzer verdient, der es zu schätzen weiß.“ Aus ihrer Sicht ist es nicht gut, wenn ein Buch jahrelang im Regal liegt: „Es muss sich bewegen, von Mensch zu Mensch, dann hat es seinen Zweck erfüllt.“

Die DDR im weitesten Sinn ist das Themengebiet der großen Sammlung Ilona Dahlmanns. Das riesige Spektrum liegt irgendwo zwischen Pittiplatsch, Erwin Strittmatter, Berthold Brecht oder Anna Seghers. Auch die große politische Lektüre zwischen Marx und den dicken Wälzern aus der UdSSR: „Das gehört ebenfalls zur Geschichte der DDR wie die Mosaik-Heftchen und die Quartett-Lizenzschallplatten von Amiga mit den Künstlern aus dem Westen“, sagt sie und zeigt einige Beispiele aus den 80er Jahren von Falco, Andy Borg und Roland Kaiser.

Es ist nicht unbedingt die Laufkundschaft, die in ihrem Geschäft täglich dutzendfach auftaucht. Ihren Umsatz macht Ilona Dahlmann hauptsächlich im Online-Handel. Ihr Facebook-Auftritt ist ein historisch wertvoller Bücherbasar, mit dem sie Interesse weckt für die vielen scheinbar vergessenen Perlen aus der sozialistischen Buchgeschichte: Wer erinnert sich noch an eine Kinderbuchreihe namens “Die kleinen Trompeterbücher”, die im Kinderbuchverlag Berlin erschienen ist. Der Titel fußt auf den kommunistischen Märtyrer Fritz Weineck und dem bekannten politischen Lied “Der kleine Trompeter”.

Ab und an öffnen auch Menschen mit Promi-Faktor die bescheidene Holztür zum Bücher-Paradies. Sänger Max Raabe („Kein Schwein ruft mich an“) schaute sich während der Buga-Zeit 2015 hier ebenso um wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. „Der sagte damals zu seinen Begleitern: Kommt rein, das müsst ihr gesehen haben“, erinnert sich Ilona Dahlmann, die einst Facharbeiterin für Nachrichtentechnik auf dem Fernsehturm in Rhinow gelernt hat. Raabe schrieb in das Gästebuch: „Vielen Dank, fast hätte ich alles gekauft.“

Mit diesem Antiquariat ist die 55-Jährige erst spät ihrer Berufung gefolgt. Seit der Wende hat sie sich unter anderem in der Gastronomie versucht – Imbiss, Café und Hausmannskost. Doch sie musste feststellen: Stölln ist nicht Berlin.

Einen Kaffee und ein Stückchen Kuchen gibt es immer noch unterm Apfelbaum. Beides steht auf der Glasplatte des großen runden Tisches zwischen all den literarischen Schätzen. Der Platz unter der Glasplatte ist für die Lesezeichen dieser Welt reserviert: „Jedes neue Buch untersuche ich auf entsprechende Inhalte.“ Mit Erfolg, wie man sieht. Da gibt es einen bundesdeutschen 10-Mark-Schein oder ein viel älteres Etikett Rathenower-Pils aus der VEB Brauerei. Genutzt wurden die Etiketten sowohl für 0,33 als auch für 0,5 Liter Flaschen. 61 Pfennig kostete die kleine Bierflasche, 92 Pfennig der halbe Liter. Interessant ist auch eine Milchkarte aus dem VEB Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“ in Premnitz. 1962 hätte sich der Besitzer seine Milch gratis abholen können – offensichtlich wollte er die Karte lieber als Lesezeichen nutzen. Auch ein Persilschein aus dem Genthiner Waschmittelwerk gehört zu den Schätzen unter der Glasplatte: „Persil gehört in jedes Haus“. So lautete die Werbebotschaft damals.

Ein großes Stück DDR-Geschichte sieht Ilona Dahlmann jeden Tag, wenn sie hintenraus die Tür zum Hühnerhof öffnet. Auf einem Hügel steht ein imposantes Verkehrs-Flugzeug aus russischer Produktion. Die kleine Anekdote dazu hat sie schon oft erzählt, als Ende der 80er Jahren ein Mitarbeiter von Armeegeneral Heinz Keßler bei der Stadtkämmerin anrief, ob es ein Problem sei, dass hier in Kürze eine Maschine der Interflug landet: „Die Kämmerin antwortete, das geht in Ordnung.“

Lady Agnes - so wird das ausgemusterte Flugzeug IL 62 liebevoll genannt. Die Maschine landete zu Ehren des Flugpioniers Otto Lilienthal 1989 auf dem nur 860 Meter kurzen Segelflugplatz am Gollenberg. Ein Film zeigt die spektakuläre Landung hautnah. „Diese Leistung steht im Guinnessbuch der Rekorde“, sagt Ilona Dahlmann. Im vorderen Teil der Passagierkabine des Flugzeugs befindet sich die erste und bisher einzige Dauerausstellung über die zivile Luftfahrtgesellschaft, die einst als Deutsche Lufthansa der DDR startete. Im Heck der Maschine befindet sich für Heiratswillige ein Standesamt. Noch mehr Infos zur Luftfahrt gibt es im Lilienthal-Centrum in der Dorfmitte von Stölln.

Von all dieser Verkehrshektik ist unterm Apfelbaum wenig zu spüren. Schön anzusehen ist eine selbstgebaute Vogelfutter-Station in den Ästen aus einer Suppenkellen-Komposition. Ilona Dahlmann hat es mit den Tieren. Sie nutzt jede Gelegenheit, um Spenden zu sammeln für Kreaturen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sie sagt: „Wir sind Kinder der DDR, wir brauchen nicht viel zum Leben und haben gelernt zu teilen.“

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